Back to top

Vortrag mit Gerhard Stapelfeldt: Dialektische Kritik der liberalen Aufklärung und bürgerlichen Revolution

Freitag, 6. Mai 2016 - 18:30
Ort: 
Schlosskeller

Gerhard Stapelfeldt: Dialektische Kritik der liberalen Aufklärung und bürgerlichen Revolution

Die liberale Aufklärung überwindet die theoretische und praktische Meta­physik: die Auffassung einer göttlichen Welteinheit und deren politisch-ökonomische Materialisierung im Absolutismus und Handelskapitalismus. Die bürgerlichen Revolutionen in England (Industrielle Revolution, nach 1765), Nordamerika (Unabhängigkeit: 1776) und Frankreich (politische Re­volution: 1789) verwirklichen den liberalen Industriekapitalismus, die bür­gerliche Freiheit von Nationen und Individuen, die liberale Republik.
Zeitgenossen wie Hegel, Saint-Simon und Comte sind sich (um 1810/1820) einig: Liberale Aufklärung und bürgerliche Revolution scheinen einen radi­kalen Bruch mit der bisherigen Geschichte der Gewalt vollzogen zu haben: mit den Formen des willkürlichen und des rationalen Absolutismus (Levia­than), mit der Geschichte der europäischen Welteroberung, mit der Ausbeu­tung der außereuropäischen Weltregionen. Liberale Aufklärung und bürger­liche Revolutionen hätten das alte Regime zerstört, die Herrschaft der Ver­nunft proklamiert, universale Sozialutopien – ewiger Friede, Freiheit und Gleichheit aller Menschen, Wohlstand der Nationen – mit dem Anspruch auf deren Verwirklichung formuliert. Aber diese Utopien seien in die Gewalt des politisch-ökonomischen Gesellschaftskrieges, in den Großen Terror der Fran­zösischen Revolution übergegangen. Das Resultat sei, so schien es um 1814/15 (Wiener Kongreß), ein unendlicher Kreis von Revolution und Re­stauration.
Die dialektische Kritik zuerst Hegels, später vor allem Marx’ und Engels’, klärt diese Vollendung der liberalen Herrschaft der Vernunft in gesellschaft­licher Gewalt auf: Die liberale Aufklärung und bürgerliche Revolution hätten die neuen Prinzipien der alten Gesellschaft nur entgegengesetzt, also dogma­tisch vorausgesetzt. Der theoretische Dogmatismus der liberalen Aufklärung vollende sich im praktischen Dogmatismus der bürgerlichen Revolution: die Geschichte der Gewalt sei nicht überwunden, sondern werde in rationalisier­ter Form fortgesetzt. Diese Kritik verwirft nicht die liberalen Utopien, son­dern bewahrt deren Ideen, um sie in einer proletarischen Revolution wahrhaft zu verwirklichen.
G. Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Soziologie-Professor an der Universität Hamburg