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ABGESAGT: Vortrag mit Gerhard Scheit: Zur Kritik des Staats im Zeitalter des neuen Behemoth

Mittwoch, 29. Juni 2016 - 18:30
Ort: 
Schlosskeller

Gerhard Scheit: Zur Kritik des Staats im Zeitalter des neuen Behemoth

Jeder weiß, dass unter den Bedingungen des Kapitals Hunger kein Grund für Produktion ist (so Christian Thalmaier in sans phrase 1/2012). Aber das genügt nicht mehr: Jeder weiß auch, dass unter den Bedingungen des Kapitals immer noch Schlimmeres als diese Bedingungen drohen – und diese Drohung selbst noch zu seinen Bedingungen gehört: dass die Krise dem Kapital, der Ausnahmezustand dem Staat innewohnt. Und hier wird der Abgrund erst vollends sichtbar, den die Ironie im Marxschen Begriff des „automatischen Subjekts“ enthält, indem sie einen für die Verwertung idealen Zustand ausmalt, den es realiter gar nicht geben kann. Der in jeder Ware vorhandene Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, der bedeutet, dass besondere konkrete Arbeit nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, liegt zwar der Automatik der Verwertung zugrunde, weil nur durch ihn es überhaupt möglich ist, dass die Zeit, die zur Produktion der Ware notwendig ist, zum obersten Prinzip gesellschaftlicher Synthesis wird. Mit diesem Gegensatz ist aber zugleich die Möglichkeit gegeben, dass der Wert sich nicht mehr verwertet; die okkulte Qualität verliert, Wert zu setzen, und also keine goldenen Eier mehr legt: sobald nämlich die Ware sich nicht länger automatisch in Geld zurückverwandelt, Produktions- und Konsumtionskraft der Gesellschaft vielmehr auseinanderfallen.

In diesem Zerfallsprozess löst sich in letzter Instanz auch die Einheit des Souveräns auf, der den Zusammenhang der Verwertung zu sichern eigentlich berufen ist: der Hobbessche Gott ist eben sterblich, an seine Stelle tritt der neue „Behemoth“ (Franz Neumann): Das Subjekt vermag Einheit scheinbar nur noch in einem Wahn zu finden, der unmittelbar auf solche Zerfallstendenzen – die immer, auch im Zustand funktionierender Verwertung spürbar bleiben – in allen seinen Aspekten reagiert und die Drohung der Krise personifiziert. Die vollendete Gestalt dieses Wahns ist die „pathische Projektion“ (Adorno/Horkheimer), die auf die Juden zielt, und sie kommt insofern bei Heidegger, dem konsequentesten deutschen Ideologen, in ihrer ganzen Symptomatik zum Ausdruck, als er die von ihm wie von allen Antisemiten phantasierte „Menschentümlichkeit“ der Juden nicht mit irgendwelchen physischen ‚Rassenmerkmalen‘ biologistisch umschreibt, sondern gleichsam metaphysisch als „Rechenhaftigkeit“ definiert: Den Juden wird, wenn das automatische Subjekt nicht mehr zu funktionieren droht, dessen Prinzip zugeschrieben: das Messen des nicht Messbaren; der Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, konkreter und abstrakter Arbeit, als die von den Juden betriebene „Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein“.

Obwohl die Bezeichnung als Wahn oder als „pathische Projektion“ mit ihrer Anlehnung an Gegenstände von Medizin und Psychiatrie es nahezulegen scheint: Es gibt für diesen gesellschaftlichen Wahnsinn, für dieses „Pathische“ im Projizieren nur eine notwendige, aber keine hinreichende Begründung (vermutlich zögerten Adorno und Horkheimer gerade deshalb, es einfach pathologisch zu nennen und prägten lieber das ungewöhnliche Epitheton pathisch) – und gerade dieser Unterschied zwischen notwendig und hinreichend verschwindet in der ideologiekritischen Definition des falschen Bewusstseins. Der Antisemitismus ist „pathisch“ gerade insofern, als er eben nicht als notwendig in demselben hinreichenden Sinn begriffen werden kann, in dem Ideologie als das falsche Bewusstsein definiert ist – auch wenn sein geschlossenes Wahngebilde sich dann alle diese so definierten ideologischen Elemente integriert: Der Antisemit wählt den Wahn; und er wählt ihn nicht in Hinblick auf eine bestimmte Erfahrung oder auf eine isolierte Tatsache wie der bloße Nationalist und Rassist, sondern angesichts aller seiner Erfahrungen und aller von ihm registrierten Tatsachen. Es ist eine Mimesis an die Geistesgestörtheit – eine Mimesis, die aber schon darin zu erkennen gibt, wie wenig sie selbst einer Krankheit im eigentlichen Sinn entsprungen ist, dass alle, die von diesem selbstgewählten Wahn getrieben werden, immer nur denselben Feind imaginieren und eben darum zu einer Gemeinschaft, sei’s die Volksgemeinschaft der Nazis oder die Glaubensgemeinschaft der Djihadisten, verschmelzen können, die jedem wirklich Geistesgestörten verschlossen bleibt: Der Antisemit hat mit seiner Mimesis an den Wahnsinn insofern „das Unabänderliche aus Angst vor seiner Freiheit“ (Sartre) gewählt, als dieses Unabänderliche die Einheit eines Unwahren ist, die sich anders als durch Weltverschwörungsdenken nicht mehr herstellen lässt: „unabänderliche, echte und totale Feindschaft“ (Carl Schmitt).

Gerhard Scheit lebt als freier Autor in Wien, in diesen Tagen erscheint sein neues Buch Kritik des politischen Engagements beim ça ira Verlag (Freiburg).