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Emanzipation und Identität -Über das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus in der spätbürgerlichen Gesellschaft

Ringvorlesung: Emanzipation und Identität - Über das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus in der spätbürgerlichen Gesellschaft

In der kommenden Ringvorlesung des AStA der TU Darmstadt im Sommersemester möchten wir an die letzt-semestrige zur Kritischen Theorie anknüpfen. Mit den acht Vorträgen soll expliziert werden, was zuvor auf allgemeiner Ebene eingeführt wurde: Wie eine materialistische Kritik der Gesellschaft aussieht, die ihrem Gegenstand auf Höhe der Zeit begegnet. Dabei sollen zwei zentrale Momente kapitalistischer Vergesellschaftung in ihrem dialektischen Spannungsverhältnis aufgegriffen werden: Universalismus, der Anspruch die Interessen aller Menschen zu verwirklichen, und Partikularismus, die Idee, dass kleinere Einheiten ihre spezifischen Interessen gegenüber der Gesellschaft durchsetzen können. Behandelt werden soll das Verhältnis von – dem Anspruch nach – gesellschaftsverändernder Praxis zu den oben genannten Kategorien, denn, so eine zentrale These, zahlreiche reaktionäre Ideologien lassen sich nicht zuletzt in diesen Kontext einordnen.

Historisch schrieb sich das aufsteigende Bürgertum einen abstrakten Universalismus auf die Fahnen, der die reale Ungleichheiten und die tatsächliche Unmöglichkeit dieser Universalität immer schon überging, mehr noch, den größten Teil der Menschheit nie als Gleiche anerkannte. Bürgerliche Freiheit ist Freiheit im Modus ihrer Negation: Als ebenbürtige Marktteilnehmer und Untertanen des Staates dürfen alle erfahren, wie weit es her ist mit einer Gleichheit zwischen solchen, die die Freiheit besitzen, die Fabriktore und Brotkammern denjenigen zu verschließen, die die Freiheit besitzen, davor zu verhungern – von den Sklaven in den Kolonien ganz zu schweigen. Die bürgerliche Aufklärung formulierte dennoch erstmals einen Anspruch, den sie sich zugleich auch für die meisten wieder verbat. Durch die massive Weiterentwicklung der Produktionsmittel und gesellschaftliche Umbrüche stand erstmals die Möglichkeit der Befriedung der Menschheit in Aussicht, während gleichzeitig eben jene Produktionsmittel im Privatbesitz die stetige Trennung der größten Teile der Menschen von allen Mitteln des Überlebens vorantrieb.

Doch das westliche, männliche Bürgertums sägte stets auch an seinem eigenen Ast. Die eifersüchtig verteidigte Vormachtstellung wurde unterminiert von einer gesellschaftlichen Gewalt, die alles kann, aber außer zu verwerten nichts (Joachim Bruhn), die gewissermaßen keine Unterschiede mehr kennt hinsichtlich Herkunft und Geschlecht, das heißt eben jeden Menschen ohne Ansehen seiner äußeren Merkmale in ihre ausbeuterischen Dynamik zu integrieren sucht. Die Geschütze, die gestern die Aristokratie in die Flucht schossen, wurden nun von denen, die sie herstellten und bedienten, auf die neuen Herren gerichtet, das Versprechen von Freiheit und Autonomie wurde konkret eingefordert. Die Arbeiterbewegung rüttelte am Thron und scheiterte. Auch wenn die Geschichte der Revolutionsversuche eine der brutalen Repression ist, in der die jeweiligen Blutbäder unter den Aufbegehrenden sich aneinander reihen, von der Pariser Commune bis zur roten Ruhrarmee, von der Novemberrevolution bis zum spanischen Bürgerkrieg, nicht alleine äußeren Feinden, Bourgeoisie und Reaktion, ist dies zuzurechnen. Auch die zunehmende Integration des Proletariats bedingte einen Fortschrittsglauben, der sich selbst nun auf der Gewinnerseite wähnte; in Deutschland etwa stand am Ende von Staatshörigkeit und Rentenansprüchen die Volksgemeinschaft, als antisemitisches Mordkollektiv, deren Antwort auf die soziale Frage Auschwitz war.

Walter Benjamin etwa verwehrte sich in seinen geschichtsphilosophischen Thesen dem Glauben an einen unermüdlichen Fortschritt, vielmehr noch sei Geschichte nur zu verstehen als „einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“. Die Totalität des Kapitals, als ein alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens weiter und weiter sich einverleibendes Verwertungsverhältnis, wurde von einigen Kritikern ernst genommen. Bemerkt wurde hier die nicht nur vereinheitlichenden Tendenz unter der Herrschaft des Werts, die alle Menschen nur noch als gleiche kennt, sondern eben auch stets das Gegenteil bedingt: konkrete Spaltung zwischen den stets unterschiedlich am gesellschaftlichen Reichtum beteiligten (bzw. von ihm ausgeschlossenen) Vereinzelten, den auf verschiedenste Weise von den Ausschlussmechanismen und Projektionen Betroffenen, den je unter pathologischen Projektionsmustern und gesellschaftlichen Affekten Leidenden. In einer Kritik an solch einem Universalismus wurde sich so stets auch gegen eine Identifizierung mit herrschenden Zuständen verwehrt, gegen eine abstrakte Gleichheit mit der gesellschaftlichen Rolle, die nur eine solche sein kann, in der alles als vermeintliche Natur abgespalten, verleugnet und verfolgt wird, was in dieser nicht aufgeht. Den repressiven Charakter von Identität denunziert so auch ein Partikularismus, der gegen die falsche Allgemeinheit das Besondere anführt, sich so letztlich aber auch wieder im Prokrustesbett der Identitäten einrichten möchte. Was Detlev Claussen für den Begriff der Identität verzeichnet beleuchtet dies weiter, die Wandlung von einem kaum bekannten, kryptischen Begriff zur heute inflationär gebrauchten Kategorie, die gleichermaßen vulgärpsychologisch dem kollektiven Bedürfnis nach Aufgehen in Nation und Vaterland seine Berechtigung zugesteht, wie auch dem nach individuellen, nach spezifischen sexuellen Vorlieben, ja noch nach kulturindustriellen Spleens entgegenkommt. Die Atomisierung wird so verschiedentlich tapeziert; mit einer glorifizierenden Hypostasierung des Besonderen werden Partikularismen lediglich konfrontativ gegen eine Allgemeinheit (Universalismus) gestellt, ohne dass das dialektische Verhältnis von Partikularismus und Universalismus in den Blick geraten kann. Damit gerät auch das Ganze, das Kapitalverhältnis und die gesellschaftliche Totalität, aus dem Fokus der Kritik und zumeist wird noch der abstrakteste Universalismus negiert.

Eine berechtigte Kritik an einem Universalismus, der Freiheit nur denken kann in der engen Formhülle des Kapitalverhältnisses, kehrt sich somit gegen sie selbst. Die Glorifizierung des jeweils Besonderen führt wieder zu neuen Exklusionen, anstatt sie kritisch zu reflektieren und zu überwinden. Das wird besonders deutlich bei einer Verharmlosung und teilweisen Affirmation des politischen Islams, bei der äußerst repressive Partikularismen gegen die Individuen mobilisiert werden und durch diese eine Abgrenzung gegen den „Westen“ und seinen Imperialismus, der (vermeintliche) Grundlage allen Übels sei, vorgenommen wird.

In unserer Ringvorlesung soll nun eingangs das Verhältnis von Universalismus und Kapital beleuchtet werden. Dazu ist einerseits ein historischer Blick auf die Ideengeschichte der Aufklärung (Samuel Salzborn, 20.4) notwendig, wie auch auf das sie bedingende gesellschaftliche Verhältnis, zwischen den Losungen der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) mit ihrer Erklärung der Menschenrechte und der Entwicklung der Marktwirtschaft. Der erste thematische Block der Vortragsreihe wendet sich diesem universellen Herrschaftsanspruch instrumenteller Vernunft und seiner Kritik zu, aber eben auch die Hoffnung auf eine Überwindung des Kapitalverhältnisses mit der Kritik der liberalen Aufklärung und bürgerlichen Revolution (Gerhard Stapelfeldt, 6.5).

Das oben angeführte gegenläufige Moment des Partikulären behandelt nun ein zweiter Block, in dem diese Ansätze zu einer Regression in der Hinwendung zu Identität, Volk und Kultur behandelt werden sollen, beleuchtet an Momenten im heutigen Anti-Rassismus und Feminismus: Wie kritisch ist critical whiteness? (Klaus Blees, 8.6) und Das Abstraktionstabu im Feminismus (Roswitha Scholz, 19.5). Eingerahmt wird dieser Block von drei Vorträgen, die insbesondere das Verhältnis von kapitalistischer Weltgesellschaft, Krisenideologie und Antisemitismus behandeln. Zunächst wird mit Blick auf den Islamismus und die in ihm angelegten Kontinuitäten wird diskutiert, inwiefern von einer Wiederkehr des Nationalsozialismus? (Philip Lenhard, 19.5) gesprochen werden kann, bevor die generelle Hinwendung zu Identität und Kultur (Andreas Benl, 24.6) thematisiert wird. Den letzten Teil bildet eine Betrachtung der Konsequenz dieser Auswüchse, die Glorifizierung von Staat, Bande oder Weltgesellschaft: Zur Kritik des Staats im Zeitalter des neuen Behemoth (Gerhard Scheit, 29.6).

Alle Vorträge finden jeweils um 18:30 Uhr im Schlosskeller der TU Darmstadt statt. Der Eintritt ist frei und auch Nicht-Studierende sind herzlich willkommen.

Aufzeichnungen:

Samuel Salzborn - Eine Ideengeschichte der Aufklärung

Gerhard Stapelfeldt - Dialektische Kritik der liberalen Aufklärung und bürgerlichen Revolution

Roswitha Scholz - Das Abstraktionstabu im Feminismus

Andreas Benl - Kulturrelativismus im Licht der aktuellen Situation im Mittleren Osten

 

Weitere Aufzeichnungen aus diesem Semester:

Kevin Culina und Jonas Fedders - Im Feindbild vereint. Zur Relevanz des Antisemitismus in der Querfront-Zeitschrift Compact

Merle Stöber - Antisemitismus im Kontext des Feminismus