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Utopie und Wirklichkeit der Menschenrechte

Mittwoch, 19. November 2014 - 18:30 bis 20:30
Ort: 
Schlosskeller der TU Darmstadt

Hannes Bode: Utopie und Wirklichkeit der Menschenrechte


„Zweiter freier Mann: Der Korporal hat mir verboten, morgens um diese Zeit zum Exerzieren zu gehen. Ich bin ein freier Mann, also gehe ich jeden Tag zum Exerzieren.“ 
Alfred Jarry: Ubu Enchaine


„Diese absurde Komik ist einer tiefen Tragik entsprungen: ‘liberté’ ist ja ein Schlachtruf gewesen, mit dem das Bürgertum gegen den Adel gezogen; sie war Hoffnung und wurde Illusion, doch wenn auch die Hoffnung nicht eingelöst wurde und die Illusion bis zum Selbstbetrug absinkt, erlischt die Sehnsucht nach Freiheit deshalb noch nicht.“
Franz Fühmann: Praxis und Dialektik der Abwesenheit


Aufklärung erscheint in den heutigen Debatten entweder als europäisches Erbe, als Ursprung der nun endlich umgesetzten bürgerlichen Demokratie, oder als überholtes eurozentrisches Modell, das in Zeiten postmoderner Pluralität ausgedient hat. Vertreter der ersten Darstellungsweise dozieren idealistisch die Ideengeschichte der großen Aufklärer, insbesondere die Geschichte der Idee der Menschenrechte, und ignorieren die Realgeschichte der Aufklärung, die Freiheit als Unfreiheit und den Wohlstand der Bürger aus Sklaverei und Ausbeutung erschuf. Das negative Potential, die „Dialektik der Aufklärung“, den Zivilisationsbruch der Moderne verstecken sie in belesenen Fußnoten, um nicht radikal reflektieren zu müssen.
Auch die an zweiter Stelle Genannten fordern keine Reflektion, sie diffamieren vielmehr nicht nur alle Ideen der Aufklärung, sondern auch Idee und Wahrheitsanspruch. Die Berücksichtigung der schlechten Realgeschichte der Aufklärung ermöglicht aber einen emanzipatorischen Bezug auf Ideen der Aufklärung, etwa auf die Idee der Menschenrechte, die als noch nie verwirklichte eben Basis aller Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse sein könnten.
Ein materialistischer Blick zeigt den unmittelbaren Zusammenhang von Sklaverei, Kolonisation, Akkumulation und bürgerlicher Aufklärung. Die Formulierung der Menschenrechte fällt zusammen mit dem Beginn des kapitalistischen Zusammenwachsens und Auseinandertretens der Kontinente. Bürgerliche Ideologie spricht von den Menschenrechten, während nur der besitzende Bürger auf der Welt Mensch ist. Nirgends wird der Widerspruch dieser Tage deutlicher, als im internationalen Handeln und Nichthandeln etwa im Syrienkonflikt oder der Behandlung von Flüchtlingen, von Asylsuchenden, im aufgeklärten Europa unter deutscher Führung.
 
Hannes Bode kommt aus Halle. Er ist Historiker und freier Publizist.