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Autonome Tutorien im Sommersemester

Teaser Cybertutorien SS20

 

Liebe Kommiliton*innen,
der Covid-19-Pandemie zum Trotz haben sich einige eurer Mitstudent*innen auch für dieses Semester wieder die Mühe gemacht, sich in verschiedene Fragestellungen und Themenkomplexe einzuarbeiten und diese nun regelmäßig als Autonomes Tutorium anzubieten. Für euch also die sehnlichst vermisste Gelegenheit – endlich den Anschluss an heiß diskutierte Debatten zu finden, endlich ein tieferes Verständnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu erarbeiten, endlich die von verschulten Modulplänen ausgesparten Ansätze zu ihrem Recht zu bringen und endlich Einsichten zu gewinnen, die ihren Zweck nicht in nachgeholten Klausuren erschöpfen.
Die Autonomen Tutorien widmen sich Themen, die im straffen Lehrplan der Form und dem Inhalt nach keinen Platz finden. Sie bieten die Möglichkeit, eigenen wissenschaftlichen Interessen ungezwungen nachzugehen und sie in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen. Das ist angesichts des stetigen Drucks im Studienalltag zwar leider häufig kaum möglich, der Erfahrung nach finden sich in den Tutorien aber dennoch viele Studierende ein, denen das Thema am Herzen liegt und die die Zeit und Muße mitbringen, sich der Sache aufmerksam zu widmen. Und gerade bei schwierigeren Themen werden Wissenshierarchien nicht gegeneinander ausgespielt, sondern alle Teilnehmer*innen mit einbezogen.
Angesichts der anhaltenden Ausgangsbeschränkungen werden die Treffen online stattfinden. Um teilzunehmen, schreibt den Tutor*innen einfach per Mail, sie nehmen euch dann in ihren Mailverteiler auf und informieren euch über das weitere Vorgehen.

Wir hoffen auf euer reges Interesse und freuen uns auf eure Teilnahme!

             

Wie nehme ich an einem Cybertutorium teil?

  1. Meldet euch am besten noch im Verlauf der ersten offiziellen Semesterwoche (20. bis 24. April) per Mail bei den betreffenden Tutor*innen. Die Mailadressen findet ihr unter den Ankündigungstexten.
    Ein späterer Einstieg ist jederzeit möglich.
  2. Die Tutor*innen organisieren die Terminfindung, stellen die Textgrundlagen und anderes Material zur Verfügung und ihr einigt euch auf die zu verwendende Software.
  3. Die Tutorien beginnen voraussichtlich in der Woche vom 27. April und finden üblicherweise wöchentlich statt.

Über den Mailverteiler oder Chatgruppen bleibt ihr für alle weiteren Absprachen in Kontakt.

             

Solltet ihr allgemeine Fragen zum Projekt haben, schreibt uns gerne an , bei Fragen zu den einzelnen Tutorien, schreibt den jeweiligen Tutor_innen einfach direkt.

Ihr möchtet selbst ein Tutorium anbieten? Gegen Ende der Vorlesungszeit wird eine Bewerbungsfrist durch Aushänge und auf der Homepage des AStA bekanntgegeben. Die eingereichten Konzepte werden dann anonymisiert und von einer vom AStA gestellten Auswahlkommission diskutiert und ausgewählt. Alle weiteren Informationen dazu findet ihr auf unserer Übersichtsseite zur Ausschreibung.

Die Tutorien:

Wissenschaftler*innen in der Gesellschaft: Leben im technischen Zeitalter

Die Präsenz von Naturwissenschaftler*innen, Techniker*innen und den Ergebnissen ihrer Forschung ist allgegenwärtig, Diskurse um KI, Gentechnik oder Klimawandel werden tagtäglich medienwirksam geführt. Es wird viel über Anwendungen, Folgen und Risiken von Technologien und Wissen gesprochen. Die Rolle der Wissenschaftler*in selbst aber wird selten thematisiert. Wenn über und mit Wissenschaftler*innen gesprochen wird, dann werden sie häufig nicht als in einer Gemeinschaft situierte Personen mit Normen und Werten thematisiert, sondern vor allem in ihrer scheinbar von der Gesellschaft abgehobenen Funktion als Expert*in angesprochen. Eine Verbindlichkeit gegenüber möglichen Folgen ihrer Erfindungen wird den Forschenden so oft abgesprochen. Dieses Tutorium versteht die forschenden Wissenschaftler*in vor einem gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Kontext, zu dem sich immer verhalten wird. Die Entwicklung von Technologien und wissenschaftlichen Erkenntnissen wird stets motiviert und beeinflusst. Dies kann durch etablierte Forschungskulturen und Finanzierungssituationen erfolgen, aber auch historische Ereignisse, politische Ideologien oder persönliche Erfahrungen der einzelnen Akteure können in den Forschungsprozess hineinwirken. Aus diesem entstehende neue Erkenntnisse oder Technologien können dann ihrerseits gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen.

Im Tutorium sollen diese Dynamiken exemplarisch an zwei Fallbeispielen – die Situation der Kernphysik nach dem Zweiten Weltkrieg und der aktuelle Gentechnikdiskurs – betrachtet und diskutiert werden. Mit Texten von beispielsweise Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg, Erwin Chargaff und Francis Crick sollen dabei die Perspektiven von forschenden Naturwissenschaftler*innen ebenso behandelt werden, wie theoretisch-gesellschaftswissenschaftliche Arbeiten von Karl Jaspers, Lily Kay oder Evelyn Fox-Keller. Ergänzt werden die akademischen Perspektiven durch künstlerische Auseinandersetzungen wie Theaterstücke oder Filme. Anhand der Fallbeispiele soll ein produktiver Gedankenaustausch zwischen verschiedensten Disziplinen über die Frage nach Verantwortung in den Wissenschaften ermöglicht werden.

Kontakt: Meike ( )
Termin: Immer Donnerstags um 18:00 Uhr

Was ist Geschlecht?

Geschlecht erscheint uns häufig als etwas Selbstverständliches. Doch was genau bedeutet es eigentlich, eine Frau, ein Mann oder nicht-binär zu sein? In der derzeitigen feministischen Debatte werden vor allem zwei Positionen gegenübergestellt. Einerseits materialistische Feminismen, die versuchen gesellschaftliche Strukturen zu kritisieren, dabei allerdings häufig Trans-Perspektiven vernachlässigen. Andererseits Perspektiven der trans studies, die ihren Fokus auf die Lebensrealitäten von trans Personen setzen, dabei aber wiederum häufig die Kritik an gesellschaftlichen Strukturen vernachlässigen. Beide Perspektiven bedürfen einer näheren Analyse. Was sind ihre jeweiligen Argumente? In welchen Streitfragen widersprechen sie sich? Wo lassen sich Verknüpfungspunkte finden?

Wir wenden uns zuerst ‚klassischen‘ Theorien über Geschlecht zu: Wie wird Geschlecht von Simone de Beauvoir in ihrem existentialistischen Feminismus beschrieben? Wozu hat Gayle Rubin die Unterscheidung zwischen Sex und Gender eingeführt? Welche Kritik formuliert Judith Butler an dieser Unterscheidung? Was bedeutet die „politische Kategorie Frau“ in Koschka Linkerhands materialistischem Feminismus?

Gerüstetet mit diesen Theorien werden wir uns den trans studies zuwenden. Im Zuge dessen werden wir uns die Verbindung zwischen Geschlecht, Sexualität und Technik ansehen: Von butch communities und Intersektionalität bei Leslie Feinberg über die Vielfalt der Geschlechter bei Kate Bornstein und die poststrukturalistische Perspektive Paul. B. Preciados bis hin zu einem technisierten Blick auf Körper bei Sandy Stone. Dabei wird uns die Frage leiten, wie Geschlechtertheorien der trans studies in Konflikt geraten mit den Geschlechtertheorien klassischer Feminismen.

Für das Tutorium sind keine Vorkenntnisse notwendig. Alle Inhalte werden grundlegend beschrieben, gelesen und diskutiert. Ich wähle für jede Sitzung Texte aus, die wir vorab lesen und im Tutorium besprechen werden.

Kontakt: Johanna ( )
Termin: Immer Montags um 16:15 Uhr

Abschied vom Proletariat?

In diesem Tutorium soll der aktuellen Diskussion um den Klassen- und Proletariatsbegriff nachgegangen werden. Immer wieder flammen Diskussionen über diese, aus unterschiedlichen Gründen, totgeglaubten Begriffe auf. Als Ausgangspunkt für die Diskussion im Tutorium soll André Gorz‘ ‚Abschied vom Proletariat – jenseits des Sozialismus‘ dienen. Gorz begrub nicht nur die alten Hoffnungen, die in das Proletariat vor dem Nationalsozialismus gelegt wurden, sondern war auch Ausdruck und Wegbereiter der undogmatischen Neuen Sozialen Bewegungen, welche zum einen den Kampf für eine „andere Welt“ diversifizierten bzw. zersplitterten und subjektivierten, aber auch immer wieder neue, exklusive revolutionäre Subjekte fanden. Angesichts der Kritik an Arbeitsfetisch und Arbeitsontologie, stellt sich die Frage, ob es noch einen positiven Bezug aufs Proletariat geben kann und ob mit dieser Kritik der Arbeit nicht ein wichtiges analytisches Instrument verloren geht und eine gesellschaftliche Dimension blindlings aufgegeben wird.

Phänomene wie die Gelbwesten sollen ebenso besprochen werden, wie die Postwachstumsbewegung, welche sich auf Gorz bezog – denn diese weisen, so scheint es, in verschiedene Richtungen. Während den ersteren die Wirtschaft als Ganzes insofern angeht, als ihre berechtigten Interessen sich durchsetzen lassen, möchten letztere einen universalen Wandel der Wirtschaft. Beide bleiben aber im Rahmen der kapitalistischen Vergesellschaftung; dies könnte insofern rational sein, als dass Maximalforderungen wie die Abschaffung des Kapitalismus oder der Arbeit im Abstrakten verbleiben und einem nur das gute Gewissen des kritischen Kritikers verschaffen.

Kontakt: Tonguç ( )
Termin: Immer Mittwochs um 18:00 Uhr

Die Aktualität der Theorie Moishe Postones – Über Wert, Arbeit, Antisemitismus und die deutsche Linke

Viele Theoretikerinnen und Theoretiker geraten unverschuldet in Vergessenheit oder werden nur episodisch erwähnt, auf einen Gedanken reduziert. Auch bei Moishe Postone ist diese Tendenz zu beobachten. Dabei ist das Werk des kanadischen Historikers, Ökonomen und Soziologen aktueller denn je. Postone hat mit seinen Thesen zur Verstrickung von Nationalsozialismus und Antisemitismus Neuland betreten. Als einer der ersten Theoretiker hat er die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden durch die Nazis, als den eigentlichen Zweck des nationalsozialistischen Krieges interpretiert, und versucht die Dynamik der Shoa mit, an Marx geschulten, Begriffen zu deuten. Damit hat er eine Gegenposition zur Nachkriegsgeschichtswissenschaft formuliert und den Finger in die Wunde des Selbstverständnisses der deutschen Linken gelegt. Diese sprach in den 1970ern nur vage vom Faschismus, den sie auch in allen bürgerlichen Demokratien im Aufsteigen begriffen sah, ohne das historisch-konkrete am Nationalsozialismus zu sehen. Postone wies auf den großen blinden Fleck des linken Antisemitismus hin – damals keineswegs eine Selbstverständlichkeit!
Neben diesen Interventionen, deren Notwendigkeit vor dem Hintergrund von Alarmismus und Unfähigkeit zur genauen Begriffsbildung wieder gilt, möchten wir uns mit seiner Weiterentwicklung der Marx‘schen Gesellschaftsanalyse, die leider in Vergessenheit geriet, beschäftigen. Dabei gilt unserer Aufmerksamkeit der Postone‘schen Kritik der Begriffe ‚Arbeit‘ und ‚Wert‘.

Kontakt: Johannes ( )

Was ist das – Kritik? Perspektiven zwischen früher Frankfurter Schule und French Theory

Unser Alltagssprachgebrauch ist geprägt von allerlei Kritischem: Man nehme einen kritischen Standpunkt ein, sei ein kritischer Geist oder habe eine kritische Meinung. Insbesondere letzteres ist bei näherer Betrachtung merkwürdig: Sätze der Meinung leiten wir gewöhnlich mit Formulierungen ein, die auf uns selbst verweisen (»Ich finde, glaube, meine, daß…«). Demgegenüber versteht sich die Kritik eines Gegenstandes darauf, sich als Anwältin ihrer Sache zu präsentieren (»Es liegt in der Sache, daß…«, »Es kann nicht sein, daß...«). Steht die Meinung so auf einem partikularen individuellen Standpunkt, zielt Kritik auf etwas von diesem Standpunk Unabhängiges. Ist eine Meinung damit etwas, das man individuell für sich reklamiert, besteht die Denkbewegung der Kritik auf Verbindlichkeiten in der Sache. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob überhaupt von einer kritischen Meinung gesprochen werden kann, oder ob das Sprechen von einer kritischen Meinung nicht selbst zu kritisieren ist.
Dem hier skizzierten Kritikverständnis unterliegt eines, das als immanente Kritik bezeichnet werden kann. Es geht darauf, die Dinge an ihrem eigenen Anspruch zu messen. Sie speist ihre Geltung aus der Logik des kritisierten Objekts, um diese[s] zu verändern. Sofern Kritik so auf die Veränderung des Gegebenen und damit auf die Emanzipation von selbigem zielt, lässt sich fragen, ob und wie immanente Kritik umfänglich befreiend sein kann, wenn sie ihr Maß an der kritisierten Sache nimmt und auf diese verpflichtet bleibt.
Einem immanenten Kritikverständnis kann ein ästhetisches Kritikverständnis gegenübergestellt werden. Ein solches betont gerade das eigene Selbst und dessen gewordenen Standpunkt. Es beansprucht seine Geltung und Autorität aus der Position des kritisierenden Subjekts, um diese zu überschreiten. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, wie ein solcher Modus der Kritik verbindlich sein und woran er sein Maß finden kann. Ließe sich eine subjektbetonende Kritik rechtfertigen, die nicht bloße Meinung ist?
Fragen wie diesen möchte sich dieses Autonome Tutorium widmen. Es versucht dabei in unterschiedliche Kritiktraditionen einzuführen. Das Spannungsverhältnis aus objektbetonter Kritik und einer Kritik, die die Subjektposition fokussiert, wird dabei leitend sein. Hierfür wollen wir uns zunächst einige Klassiker des kritischen Denkens als gemeinsame Grundlage nahebringen [Kant, Hegel, Marx, Nietzsche]. Im Anschluss sollen Kritikmethoden und Schulen erschlossen werden, die auf jene Klassiker rekurrieren – maßgebend werden sowohl Schriften der frühen Frankfurter Schule [u. a. Adorno und Horkheimer] sowie Schriften aus dem Kanon der French Theory [u. a. Foucault und Butler] sein.
Alle Semester und Studienfächer sind herzlich willkommen. Es bedarf keines spezifischen Vorwissens – nur der Lust am Kritisieren.

Kontakt: Luis

Der neu(st)e Geist des Kapitalismus – Ideologie und Ethos in der gegenwärtigen Arbeitswelt

Die Mobilisierung der Individuen für die Teilnahme am kapitalistischen Produktionsprozess beruht – so etwa die prominent von Max Weber vertretene These – auf einem spezifischen Geist; in der Frühphase des Kapitalismus z. B. auf dem protestantischen. Jener Geist sei es, der den Menschen die moralischen Gründe für ihr Handeln liefert und damit als individualpsychologischer Antrieb für die Teilnahme am gesellschaftlichen Funktionszusammenhang wirkt.
Welche Formen aber nimmt dieser Geist in den fortgeschritteneren Stadien des Kapitalismus an?
Dieser Frage wollen wir im Tutorium nachgehen. Dazu sollen vor allem Auszüge aus dem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Luc Boltanski und Ève Chiapello aus dem Jahre 1999 gelesen und diskutiert werden. Nachdem die beiden darin den Wandel des kapitalistischen Geistes in seinen historischen Etappen nachzeichnen, rekonstruieren sie anhand der Inhaltsanalyse von zeitgenössischer Managementliteratur die „Ideologie […], die das Engagement für den Kapitalismus“ um die Jahrtausendwende rechtfertigte.
Ob und inwiefern diese Ideologie auch 21 Jahre nach dem Erscheinen des Buchs von Boltanski und Chiapello noch wirksam ist bzw. sich modifiziert hat, wir heute also von einem neusten Geist des Kapitalismus sprechen müssten, gilt es im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem neuen Geist zu klären.

Kontakt: Jonas ( )
Termin: Immer Donnerstags um 14:25 Uhr

(Un)fair algorithmic decision making

What if you were not invited to a job interview because the algorithmic decision making system was biased? An algorithmic decision making system, or machine learning, is a tool that makes predictions based on the models trained using past decisions. Machine learning models, being approximations, are judged on the overall accuracy of their predictions.

However, these models are not only based on mathematical assumptions, but also social assumptions. A model with 95% accuracy might be sufficient in one context while the 5% errors can have significant consequences in another context. These models can be unfair to groups or individuals. What happens if a model is systematically biased to a certain group in the society? What if it is specific individuals who are discriminated?

In some cases, machine learning is deployed to automate judgement that would otherwise require effort from a human being and, in other cases, it is deployed to predict social outcomes. In both these cases, the outcome is prone to errors. Although it is easier to count the errors and note how (in)accurate the outcome is, a more pressing concern is the social consequence of the errors. Who is discriminated against and what are the underlying reasons? Often, those who are historically discriminated against, continue to suffer.

The reasons can range from implicit bias to unequal sample size to missing attributes in the models. In this tutorium, we will use texts from moral philosophy, sociology and computer science to discuss the fairness in algorithmic decision making. We will look at the various understandings of what fairness means, whether algorithmic decisions can be made fair, what makes discrimination wrong and how algorithmic decisions inflict suffering on the discriminated. As this tutorium incorporates texts from various disciplines, students from all disciplines are welcome and no prior knowledge will be assumed.

Contact: Kris ( )
Date: Every other tuesday from 18:00 to 20:00 o'clock

Kämpfe ums Recht im Kontext der Krise des europäischen Grenzregimes

In diesem Autonomen Tutorium werden wir gemeinsam sowohl die Rolle des Rechts für emanzipatorische Kämpfe als auch seine Funktion als Herrschaftsinstrument im Hinblick auf Flucht und Migration untersuchen.
Ausgehend von dem im Februar 2020 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gefällten Urteil, das Spaniens Push-Back-Praxis an den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla begünstigt, werden wir uns einen ersten Überblick über das europäische Grenzregime verschaffen und die Rolle des Rechts in diesem Rahmen herausarbeiten.

In dem oben genannten Urteil scheinen aber auch die Diskurs-   und Kräfteverschiebungen der letzten Jahre auf, die auf die Rechtspraxis des EGMR durchschlagen. Das Urteil zeigt, dass das Recht kein hermetisch abgeschlossener Raum ist, der über rein rechtstechnische Vorgänge bestehendes Recht umsetzt. Vielmehr ist das Recht selbst Austragungsort gesellschaftlicher Kämpfe. Wir werden dementsprechend auch erarbeiten, wie sich gesellschaftliche Kämpfe in Rechtsfiguren niederschlagen, die Rechtspraxis prägen und im Hinblick auf das oben erwähnte Urteil die gegenwärtigen europäischen Kräfteverhältnisse analysieren. Insbesondere werden wir uns dabei auf die historisch-materialistische Politikanalyse bzw. Sonja Buckels Buch „Welcome to Europe“ (2013) beziehen.

Kontakt: Darius ( )

Kritische Theorie und Phänomenologie? – Adorno mit Merleau-Ponty lesen

Vor dem Hintergrund der allgemeineren Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und Phänomenologie beurteilen lässt, widmet sich dieses Autonomen Tutorium einer auf den ersten Blick höchst unwahrscheinlichen Denkverwandtschaft: Zwischen einerseits Theodor W. Adorno, der seine Negative Dialektik in kritischer Auseinandersetzung insbesondere mit Husserl und Heidegger entwickelt – und andererseits Maurice Merleau-Ponty, der an eben diesen beiden Autoren kritisch anschließt.

Den Gehalt der jeweiligen ideengeschichtlichen Bezüge unberücksichtigt gelassen, zielt das Autonome Tutorium auf die gemeinsame Sache dieser beiden Autoren. Dieses positive Element, an dem sich wie an einem Scharnier Adornos Denken mit dem Merleau-Pontys verbunden zeigt, ist die zentrale Rolle, die dem Leib jeweils theoretisch zukommt. Was bei dem Franzosen offensichtlich ist, fällt bei der Rezeption des Kritischen Theoretikers allerdings oft unter den Tisch. Deshalb soll es im Tutorium – nach einer Einführung in leibphänomenologische Grundannahmen nach Merleau-Ponty – hauptsächlich darum gehen Adornos Bezug auf den Leib nachzuspüren.

Da die entsprechenden Primärtexte recht anspruchsvoll sind, lesen wir zunächst Rekonstruktionen von Bernhard Waldenfels (zu Merleau-Ponty) und Marc Nicholas Sommer (zu Adorno) – Texte die zugleich als Einführungen funktionieren, weshalb Vorwissen keine notwendige Voraussetzung ist. Besonders die systematische Studie des letzteren, über das Konzept Negativer Dialektik, wird uns dabei auf die entscheidende theoretische Funktion hinweisen, die das leibliche Erfahren bei Adorno spielt. Der zentrale Begriff, auf den wir uns davon ausgehend konzentrieren werden, ist der des mimetischen bzw. somatischen Impulses, der besonders für Adornos Freiheitsverständnis und damit u. a. auch für die Denkfigur der Dialektik der Aufklärung eine Schlüsselrolle spielt.

Kontakt: Tobias ( )

„Von der Kritik der politischen Ökonomie zur Kritik der politischen Technologie“. Über ein Motiv bei Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Friedrich Pollock.

Ist fortgeschrittene Technologie, ob kybernetisch, automatisch oder digital, ein Hindernis oder ein wichtiges Mittel zur bedürfnisorientierten Einrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft? Wie kann heutzutage immer noch physischer und psychischer Mangel herrschen, obwohl die Möglichkeiten zu seiner Beseitigung anwachsen? Ist der Begriff „Kapitalismus“ weiterhin eine angemessene Beschreibung der Funktionsstruktur unserer Welt oder wäre vielleicht besser von „Industriegesellschaft“ zu sprechen? Diesen Fragen und den Debatten ihrer Beantwortung widmet sich das Autonome Tutorium. Mithilfe der Texte dreier Denker der frühen Kritischen Theorie – Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Friedrich Pollock – versucht das Tutorium die sich fortwährend reproduzierenden Widersprüche zwischen technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Freiheit zu beleuchten. Die zentrale Stellung, die dieses Motiv in den Arbeiten aller drei Theoretiker einnimmt, beschreibt damit eine Entwicklung „von der Kritik der politischen Ökonomie zur Kritik der politischen Technologie“ (Manfred Gangl) in der kritischen Gesellschaftstheorie. Diese Entwicklung soll im Tutorium nachverfolgt werden.

Aufgrund der engen Verklammerung von gemeinsamer Lektüre und Diskussion ist für die Teilnahme eine gewisse Lesebereitschaft hilfreich. Außer dem Interesse am Gegenstand sowie der Bereitschaft zur gemeinsamen Erörterung von Überlegungen und Leseerfahrungen bedarf es ansonsten keinerlei Voraussetzungen oder Vorwissen.

Kontakt: Luise ( )
Termin: Immer Donnerstags um 19:00 Uhr

Aktuelle feministische Diskurse

Feministische Diskurse sind vielfältig, decken ein breites Spektrum ab und sind in reichweitenstarken Medien kaum präsent. Einen Überblick über die verhandelten Themen zu bekommen ist daher nicht immer einfach. In diesem Tutorium werden daher verschiedene feministische Diskursstränge betrachtet und diskutiert. In jeweils zwei bis drei Sitzungen wird eine Thematik beleuchtet, indem anhand von Fachliteratur, Zeitschriftenartikeln, Podcasts, Dokumentationen und anderen Quellen zentrale Argumente nachvollzogen werden können.

Konkret wird beispielsweise die Unterscheidung zwischen verschiedenen Strömungen des Feminismus – vor allem Queerfeminismus und radikaler Feminismus – im Tutorium thematisiert. Eine weitere Fragestellung, die dabei behandelt werden soll, ist die Aufnahme von Feminizid (Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts) als eigenen Straftatbestand ins Strafgesetzbuch. Dies wird von einigen Aktivist*innen gefordert, um geschlechtsspezifische Gewalt problematisieren und ihr entgegenwirken zu können. Kritische Stimmen halten diese Maßnahme jedoch für wirkungslos. Des Weiteren werden wir den sogenannte „Staatsfeminismus“ – also scheinbar feministisches staatliches agieren – in den Blick nehmen. Ob staatliche Gleichstellungspolitik Selbstzweck oder Mittel zur Begünstigung der kapitalistischen Ausbeutung von weiblicher Arbeitskraft ist, können wir gemeinsam erörtern. Dabei wird selbstverständlich auch diskutiert, ob die entsprechenden Gesetze Gleichstellung überhaupt fördern. Auch die Klärung und kritische Analyse der im feministischen Diskurs häufig verwenden Begriffe „Equal-Care“, „Care-Gap“ und „Mental Load“ – alles Begriffe die im Zusammenhang mit ungleich verteilter Reproduktions- und Sorgearbeit stehen – werden im Rahmen des Tutoriums stattfinden können. Ein Thema, das im feministischen Diskurs äußerst umstritten ist, ist Sexarbeit. Während die einen eine Abschaffung fordern, wollen andere eine Entstigmatisierung. Die Argumente beider Seiten sind dabei nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, weshalb wir sie genau betrachten und diskutieren werden. Darüber hinaus werden wir auch einen Blick auf internationale feministische Bewegungen werfen. Eindrucksvolle Beispiele von feministischen Kämpfen lassen sich beispielsweise in Argentinien und Rojava beobachten.

Gemeinsam entscheiden wir in den ersten Sitzungen, mit welchen Themen wir uns wie intensiv beschäftigen wollen. Auch weitere Themenvorschläge können eingebracht werden. Unabhängig davon, ob ihr euch selbst schon mit feministischen Themen auseinandergesetzt habt oder ganz neu in die Thematik einsteigen möchtet, seid ihr eingeladen in diesem Tutorium auf Augenhöhe mit anderen Studierenden zu diskutieren und dabei neues Wissen zu erschließen oder vorhandenes Wissen zu vertiefen.

Kontakt: Madeline ( )
Termin: Immer Montags um 18:00

Eike Geisel: „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“ und „Die Gleichschaltung der Erinnerung“ – Kommentare zum deutschen Antisemitismus, Nationalismus und deutscher Vergangenheitsbewältigung

„There is no business like Shoabusiness“
„Some of my best friends are German“

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sind sich die Deutschen sicher, mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit so weit fortgeschritten zu sein, dass man sich den Titel „Erinnerungsweltmeister“ verleihen könne. Im ganzen Land wurden Gedenkstätten und Museen eröffnet, Landes- und Bundesbeauftragte gegen Antisemitismus ernannt und politische „Aktionskünstler“ bauen in bundestagsnähe Aschesäulen auf, die die angeblichen letzten Reste von Holocaustopfern als Mahnung gegen das Vergessen aufbahren. Das unter diesen „wiedergutgewordenen Deutschen“ Erinnern nicht zwingend Aufarbeiten der Vergangenheit bedeutet, wurde dem Berliner Journalisten und Essayisten Eike Geisel bereits vor über 30 Jahren deutlich.
Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1997 veröffentlichte Geisel eine Vielzahl an Essays und Polemiken, in denen er sich kritisch mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzte. Statt Aufarbeitung zum Ziel zu haben, so merkte er an, diene jene spezifisch deutsche Art der Bewältigung – die Geisel einmal abfällig als „Shoabusiness“ bezeichnete – primär der nationalen Imagepflege und als „Bindemittel für das nationale Kollektiv“ eines nach neuer Identität suchenden, wiedervereinigten deutschen Volkes.
In diesem Autonomen Tutorium wollen wir uns nicht nur mit der Frage nach der Aktualität dieser scharfen Kritik beschäftigen, sondern auch einen Blick auf weitere Beiträge Geisels zu jüdischem Leben der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland und Israel sowie deutschem Antisemitismus und Rassismus werfen. Hierfür sollen einzelne Aufsätze und Essays aus den zwei Sammelbänden „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“ und „Die Gleichschaltung der Erinnerung“ gemeinsam gelesen und diskutiert sowie die Dokumentation „Triumph des guten Willens“ über Geisels Leben und Werk geschaut werden. Ergänzend wollen wir Theodor W. Adornos bekannten Aufsatz „Aufarbeitung der Vergangenheit“ lesen, um einen Ausblick darauf zu bekommen, wie Aufarbeitung und Erinnern im deutschen Kontext aussehen könnten.

Kontakt: Tim ( )
Termin: Immer Donnerstags um 16:00 Uhr

Feminismus und die Macht des Erotischen

Hört man die Worte „Feminismus“ und „Erotik“ in einem Satz, denkt man vielleicht an feministische Pornos, vielleicht auch an die Sexualisierung der Frau, die der Feminismus seit jeher kritisiert oder an Debatten um Prostitution und Sexarbeit. Selten wird dabei dem Erotischen als einer Dimension individueller Erfahrung Platz eingeräumt, die über das unmittelbar Sexuelle hinausgeht. Was heißt es, als Frau* – überhaupt als nichtmännliche Person – ein erotisches Begehren zu haben, also ein Begehren nach lustvoller Erfahrung? Gibt es so etwas wie „weibliches Begehren“? Und welche politische Bedeutung hat es, sich zu diesem Begehren zu bekennen?

Solchen Fragen wollen wir uns in diesem Tutorium stellen, indem wir sowohl die feministische Literatur zum Thema befragen als auch frei ins Gespräch kommen und Erfahrungen auszutauschen. Willkommen ist jede Person, die bereit ist, sich dem Thema unvoreingenommen zu nähern, oder vielmehr: die eigene Voreingenommenheit zu diskutieren und zu reflektieren.

Inhaltliches Wissen ist nicht vorausgesetzt, das Tutorium soll frei in der Gruppe und nach euren Interessen gestaltet werden. Ich freue mich auf euch und einen spannenden Austausch im Tutorium!

Kontakt: Sophia ( )
Immer Mittwochs um 14:00 Uhr

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